Nehmen wir an, Oskar sei in die Hände einer Verbrecherbande geraten, die ihn unter schlimmsten Drohungen dazu zwingen will, in ihrem Auftrag einen Mord zu begehen. Würde Oskar den Mord tatsächlich begehen, wäre er ohne Zweifel unfrei [Anmerkung von Kate: zu tun und zu lassen was er will]. Niemand ist frei, der unter eigener Lebensgefahr handelt. Das gilt für den Lebensretter, der sich selbst freiwillig in Lebensgefahr begibt, ebenso wie für den Mörder unter Zwang. Aus dieser Unfreiheit aber zu schließen, daß Oskar für den von ihm unter schwersten Drohungen vollzogenen Mord auch nicht verantwortlich sein würde, wäre falsch. Oskar ist zwar nicht dafür verantwortlich, daß er unfrei ist. Er ist aber für das verantwortlich, was er tut, und sei es unter Androhung von Gewalt.
Vielleicht erscheint uns das als zu hart. Könnte man Oskar nicht eine Art Notwehrrecht zubilligen und sagen, er rette mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln sein eigenes Leben? Schließlich würde niemand Oskar einen Vorwurf daraus machen, wenn er in einer tatsächlichen Notwehrsituation einen Angreifer, der ihm nach dem Leben trachtet, töten würde. Auch in einer solchen Situation wäre Oskar nicht frei, sondern würde unter Zwang handeln. In diesem Fall, aber auch in dem eben beschriebenen Fall eines unter Lebensgefahr erzwungenen Mordauftrags würde Oskar durch das Töten eines anderen Menschen sein eigenes Leben retten. Entscheidend sind aber nicht die Parallelen der beiden Fälle, sondern die Unterschiede.
In der Notwehrsituation ist der Getötete schuld an seinem eigenen Tod. Sein Verhalten ist die Ursache dafür, daß Oskar bis zum Äußersten gehen mußte, um sich selbst zu retten. Dies ist beim Opfer eines Auftragsmordes nicht der Fall. Diese Person trachtet Oskar nicht nach dem Leben und trägt keine Schuld an Oskars Bedrohung. Schuld an seiner Bedrohung ist die Verbrecherbande, nicht sein unschuldiges Opfer. Deswegen handelt Oskar ihm gegenüber nicht in Notwehr und hat also keinen wirklichen Grund, die Person zu töten.
Die Rettung des eigenen Lebens rechtfertigt also nicht jede Tat. Wir sind nicht berechtigt, alles zu tun, was das eigene Leben rettet, koste es, was es wolle. Das eigene Leben ist nicht mehr wert als das Leben eines anderen. Deswegen kann Oskar auch nicht sein Leben gegen das eines anderen aufrechnen. Wenn er mit seinem Leben dafür bezahlen muß, wenn er den anderen nicht tötet, bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich diesem Zwang zu widersetzen. Er muß sich gegen das größere Unrecht zur Wehr setzen, auch wenn es sein Leben kostet. Würde Oskar dem Zwang der Verbrecherbande nachgeben und zur Rettung des eigenen Lebens das unschuldige Opfer töten, wäre er zumindest im moralischen Sinn voll für seine Tat verantwortlich.