Für unsere paar Geisteswissenschaftler:
Experten warnen vor Abwanderung von Geisteswissenschaftlern ins Ausland
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Berlin: (hib/KOS) Die zunehmende Abwanderung hoch qualifizierter
Wissenschaftler ins europäische Ausland und in die USA als Folge von
Stellenknappheit und der Abschaffung von Lehrstühlen haben Sachverständige
bei einer Anhörung am Mittwochvormittag über einen Antrag der Fraktionen von
SPD und Grünen zur Situation der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften
in Deutschland (15/4539) kritisiert. Die Experten warnten zudem vor den
negativen Folgen, die der Streit zwischen Bund und Ländern über die Hochschul-
und Forschungspolitik für Universitäten und Wissenschaftler habe. Werde die
bewährte Bund-Länder-Kooperation gefährdet, drohe ein "Rückfall in den
Provinzialismus", betonte im Namen der Deutschen Forschungsgemeinschaft der
Freiburger Geschichtsprofessor Hans-Joachim Gehrke.
Übereinstimmend erklärten die Sachverständigen, dass sich die
Geisteswissenschaften inhaltlich keineswegs in einer Krise befinden.
International habe die hiesige Forschung einen hohen Standard, so Professorin
Ulrike Freitag, Direktorin des Zentrums Moderner Orient in Berlin. Horst
Bredekamp, Professor für Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität
Berlin: "Die Geisteswissenschaftler waren selten so produktiv wie momentan."
Zudem befinde man sich in einer positiven Umbruchphase, erläuterte der Jenaer
Romanistik-Professor Reinhold Grimm: Die Forscher vernetzten sich zusehends,
auch greife Teamarbeit immer mehr um sich.
Grimm beklagte, dass die Geisteswissenschaften wegen ihres fehlenden
kurzfristigen ökonomischen Nutzens unter Druck gesetzt werden. Professor
Wolfgang Frühwald, Präsident der Alexander-von-Humboldt-Stiftung: "Wir stehen
in der Öffentlichkeit unter Legitimationsdruck, damit müssen wir offensiver
umgehen." Bredekamp hob die Rolle der Geisteswissenschaften als Seismographen
hervor: "An den Universitäten werden kulturelle Bewegungen viel früher
wahrgenommen als anderswo." Als Beispiel erwähnte Gehrke französische
Studien, nach denen die vertiefte Kenntnis anderer Kulturen und Traditionen
gegen Vorurteile immunisiere. Dies sei etwa beim Thema Antisemitismus von
Belang. Bredekamp kritisierte, die Geisteswissenschaften würden trotz ihrer
gesellschaftlichen Bedeutung "nieder geredet", es werde auf
sie "eingedroschen". Er wies darauf hin, dass zehn Mal mehr Menschen Museen
und Ausstellungen besuchen als Fußballstadien.
Als ein Kernproblem bezeichneten die Sachverständigen die Abschaffung von
geisteswissenschaftlichen Lehrstühlen. Um die zunehmende Abwanderung jüngerer
Forscher ins Ausland zu verhindern, "brauchen wir Stellen", forderte Gehrke.
Mit besonderen Schwierigkeiten hätten kleinere Fächer wie etwa Sinologie,
Orientalistik oder Slawistik zu kämpfen, obwohl deren Themengebiete
angesichts der fortschreitenden Internationalisierung immer wichtiger würden.
Der frühere Staatsminister Julian Nida-Rümelin, Politik-Professor in München,
beklagte in seiner schriftlichen Stellungnahme, dass "in ganz Deutschland
kleine geistes- und kulturwissenschaftliche Fächer geschlossen werden". Bei
diesem Vorgehen würden sich die einzelnen Bundesländer nicht untereinander
abstimmen, kritisierten mehrere Experten. Grimm berichtete, dass
beispielsweise in Berlin und Brandenburg aufgrund rein lokaler Entscheidungen
Slawistik-Lehrstühle reihenweise dichtgemacht würden. Frühwald sagte, mit der
Aufgabe der Koreanistik-Professur in Tübingen werde "dieses Fach in Baden-
Württemberg ausradiert". In Nordrhein-Westfalen, so Gehrke, gebe es nur noch
einen Lehrstuhl für Sinologie. Ulrike Freitag wandte sich dagegen, kleinere
Fächer an einigen wenigen Universitäten zu konzentrieren. Stattdessen solle
man deren Arbeit bundesweit besser vernetzen.
Aus Sicht Nida-Rümelins wird die verstärkte Berufsfeld- und
Anwendungsorientierung von vielen Geisteswissenschaftlern und Studenten "als
eine Existenzbedrohung ihres Fachs empfunden". Die Verschulung der
universitären Lehre bedrohe die Geisteswissenschaften in besonderer Weise,
weil hier die Verbindung von Lehre und Forschung besonders eng sei. Sie
zwinge die Geisteswissenschaften in ein "Korsett", das etwa für die Physik
oder die Jurisprudenz angemessen sei, "aber in der Philosophie oder in der
Politischen Theorie eine gefährliche Erstarrung des Lehrbetriebs nach sich
zieht".
Quelle:
http://www.bundestag.de/bic/hib/2005/2005_132/07
http://www.bundestag.de/bic/hib/2005/2005_132/07.html