Tja, lieber Sava, Deine Argumentation klingt logisch, wenn (a) man fälschlich die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Maßnahmen einerseits und die gesundheitlichen Folgen der Pandemie andererseits als zwei gegenüberliegende Waagschalen sieht und (b) der Leidensdruck einfach noch nicht groß genug ist. Für mich ist das eher eine Frage von Weitsicht. Warten wir mal ab, bis die Feiertagsverzerrung aus den Meldedaten raus ist. Nur dann hat es mal wieder keiner kommen sehen.
Ich lass dazu mal diesen aktuellen Tweet des wissenschaftlichen Leiters des DIVI Intensivregisters da:
https://twitter.com/ECMOKaragianni1/status/1379754846702743553
Versteh mich bitte nicht falsch, ich sehe es ja auch so, dass wir dringend was tun müssen und die Infektionen kräftig runter müssen, ob nun nur lokal, regional oder national, sei mal dahingestellt.
Natürlich muss alles mit Weitsicht und übergreifend betrachtet werden. Nur sehe ich das Problem, dass das nicht nur politisch, sondern auch innerhalb der Bevölkerung begriffen werden muss. Da sehe ich halt den Knackpunkt, weil das eben die- oder denjenigen nicht (mehr) interessiert, wenn sie nicht mehr können. Menschen sind ja auch oft einfach gestrickt und verstehen das nicht (mehr) bzw. wägen dadurch für sich anders ab. Ich würde aktuell um keinen Preis in ein Flugzeug steigen, es machen aber reichlich Leute. Was soll Politik denen sagen? Man kann die Reisen verbieten, aber deshalb haben die Leute ja noch lange nicht verstanden.
Die Menschen sind am Ende in jeglicher Form die handelnden Akteure. Die erreicht man aktuell immer schwieriger, weil sie einerseits müde sind und auch, weil die Gefahr halt auch immer noch sehr abstrakt ist. Du hast den Leidensdruck genannt, den ich als den Punkt betrachte, der das Handeln der Menschen nochmal nachhaltig beeinflussen kann/wird. Ein Unternehmer als wichtiger Akteur wird wohl erst zur Maskenpflicht greifen, wenn die halbe Belegschaft 6 Wochen ausfällt, wenn er bisher nur über sowas gelacht hat.
"Die Politik" ist da halt auch nur noch bis zu einem Punkt in der Lage, wirksam einzugreifen. Maßnahmen müssen durchgesetzt und nachgehalten werden. Wenn das nicht geht, sind Maßnahmen ggf. falsch, obwohl sie wissenschaftlich betrachtet natürlich richtig sind. Beispiel Arbeitsschutz am Arbeitsplatz bzgl. Covid-19: kann man über die Berufsgenossenschaften nachhalten und kontrollieren lassen, nur fährt auf Grund der aktuellen Pandemie von denen keiner in den Außendienst und die betroffenen Mitarbeiter halten im Zweifel auch mal die Klappe, bevor der Job weg ist.
Die Situation ist echt beschissen und wird für politische Entscheider und Verantwortliche immer beschissener, da halte ich fortlaufendes Sperrfeuer auch nicht für zielführend, auch wenn mir gerade nicht einfällt, was man sonst tun könnte.
Übrigens noch ein Beispiel, wie problematisch das Thema Weitsicht vs. aktuelles Handeln ist.
OVGs haben klar gesagt, dass das Demonstrationsrecht ein so hohes Gut ist, dass man gewisse Demonstrationen nicht per se verbieten kann und auch nicht auf Grund von mutmaßlichen Dingen, die passieren könnten (und am Ende natürlich passiert sind -> Leipzig, Kassel, Stuttgart). Wir sind halt auch Verfassungsstaat. Unser Rechtssystem lässt diesen Weitblick leider auch nur bedingt zu. Deshalb finde ich es halt aktuell nicht richtig, dass auf "der Politik" so herumgekloppt wird, wo auch andere Institutionen sich mit der aktuellen Situation sehr schwer tun und schlussendlich auch falsche und weitreichende Entscheidungen getroffen haben. Wir sind da auch Gefangene unserer großen gesellschaftlichen Errungenschaften (demokratischer Rechtsstaat).