Meere könnten bis 2048 leergefischt sein
Die erste globale Studie über die Folgen des Artensterbens in den Meeren bestätigt schlimmste Befürchtungen: Sollte die Menschheit weiterhin ungebremst Raubbau betreiben, könnten sämtliche Bestände von Speisefischen und Meeresfrüchten bis zum Jahr 2048 zusammenbrechen.
Die Forscher wühlten sich durch die Daten von 32 Experimenten, analysierten 48 Studien über geschützte Meeresgebiete und werteten die globalen Fischfang-Daten der Vereinten Nationen seit 1950 aus. Sie recherchierten sogar die Geschichte der vergangenen 1000 Jahre in zwölf Küstenregionen anhand von Archiven, Fischereiakten, Sediment-Bohrkernen und archäologischen Funden.
Dorsche aus der Ostsee: Nach dem Zusammenbruch der Kabeljau-Bestände vor Kanada und in der Nordsee ist auch seine Zukunft offen
Egal, ob sie kleine Gezeitenbecken am Meeresufer oder Studien über einen gesamten Ozean untersuchten - "überall zeigt sich das gleiche Bild", sagte Studienleiter Boris Worm. "Mit den Arten geht die Produktivität und die Stabilität ganzer Ökosysteme verloren. Ich war schockiert und verstört darüber, wie eindeutig diese Trends sind. Das ist schlimmer als alles, was wir erwartet hatten."
Worm, Biologe an der Dalhousie University im kanadischen Halifax, präsentiert in der aktuellen Ausgabe des Fachblatts "Science" gemeinsam mit einem internationalen Team die bisher wohl umfassendste Untersuchung über die wirtschaftlichen Folgen des Artensterbens in den Meeren. Die Forscher stützten sich dabei nicht auf Modellrechnungen, sondern ausschließlich auf Beobachtungen real existierender Vorgänge.
Das Fazit: Sollte die Menschheit die Meere weiterhin so rücksichtslos ausbeuten wie bisher, könnten bis zum Jahr 2048 alle derzeit genutzten Bestände an Speisefischen und Meeresfrüchten zusammenbrechen. "Wenn wir unseren Umgang mit den Arten in den Ozeanen nicht fundamental ändern, wird dieses Jahrhundert das letzte mit wild gefangenem Fisch sein", sagte Mitautor Stephen Palumbi von der kalifornischen Stanford University.
Schon jetzt ist laut Worm knapp ein Drittel der von den Menschen genutzten Fisch- und Meeresfrüchte-Bestände zusammengebrochen, also in der Fangmenge um 90 Prozent gegenüber dem Ursprungswert zurückgegangen. Trotz großer Investitionen in die Fischerei seien die Erträge seit 1994 kontinuierlich gesunken. "Der Trend ist eindeutig", erklärte Worm, "und er beschleunigt sich."
Der Verlust der Artenvielfalt bedrohe nicht nur einen bedeutenden Teil der Nahrungsmittelversorgung der Menschheit, sondern schwäche auch die Fähigkeit der Ozeane, Seuchen zu widerstehen, Schadstoffe abzubauen und sich von Belastungen wie der Überfischung und dem Klimawandel zu erholen. Für die Menschheit steht somit einiges auf dem Spiel. Erst kürzlich stand in einem Bericht der Uno- Umweltbehörde Unep zu lesen, dass die Ozeane als Transportweg, Nahrungs- und Rohstoffquelle sowie als Müllkippe einen jährlichen Gesamtwert von 20,9 Billionen Dollar besitzen.
"Natürlich hat die Artenvielfalt in den Meeren nicht nur einen ästhetischen Wert", kommentiert Heinz-Dieter Franke vom Bremerhavener Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI). "Wenn sie zurückgeht, hat das gravierende Nachteile für den Menschen".
Von den Ergebnissen der Studie zeigte er sich allerdings weniger überrascht als die Autoren selbst. "Diese Untersuchung ist interessant aufgrund der Vielfalt ihrer Daten", sagte Franke zu SPIEGEL ONLINE. "Aber sie bestätigt, was jeder Meeresbiologe seit langem erwartet hat." Zudem bezweifelt er, dass Artenvielfalt pauschal mit Produktivität und Stabilität von Ökosystemen gleichgesetzt werden kann. "Bei den Korallenriffen etwa ist das Gegenteil der Fall", sagte der Wissenschaftler. "Trotz einer großen Artenvielfalt sind sie weder besonders produktiv noch widerstandsfähig."
Auch Dietrich Schnack vom Kieler Leibniz-Institut für Meereswissenschaften (IFM-Geomar) hegt einige Bedenken bezüglich der Studie von Worms Team. Insbesondere die Prognose, bis zum Jahr 2048 könnten sämtliche heute von der Fischerei genutzten Arten nahezu verschwunden sein, hält Schnack für "gewagt": Worm und seine Kollegen hätten einfach das heutige Tempo des Artenrückgangs auf die Zukunft hochgerechnet.
"Ich würde mich nicht trauen, von einem linearen Trend zu sprechen", sagte Schnack im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. Einflussgrößen wie etwa die Wechselwirkungen zwischen den Spezies blieben so unberücksichtigt. "Wenn eine Art zurückgeht, hat eine andere Art oft bessere Chancen." Die tatsächliche Entwicklung könne noch stark von der Prognose abweichen - sowohl zum Besseren als auch zum Schlechteren.
Wie komplex die Ökosysteme auf die Belastung durch den Menschen reagieren, lässt sich laut AWI-Experte Franke an der Nordsee beobachten. "Auf der einen Seite sind etwa der Kabeljau und die Plattfische durch Überfischung und die Meereserwärmung nahezu verschwunden, andererseits sind wärmeliebende Arten eingewandert." Streifenbarben etwa habe man zuvor in südlichen Gewässern, nie aber in der Nordsee angetroffen. "Inzwischen kommen sie dort in großen Schwärmen vor", sagte Franke.
Die Nordsee gehöre damit zu den "Gewinnern des Klimawandels" - was aber mitnichten bedeute, dass alles so weitergehen könne wie bisher. "Man darf regionale Effekte nicht mit globalen Vorgängen verwechseln", betonte Franke. Die Gegenmaßnahmen, die Worm und seine Kollegen vorschlagen, seien nach wie vor richtig: Nachhaltige Bewirtschaftung der Fischgründe, Reduzierung der Schadstoffbelastung der Meere und das Anlegen großer Schutzgebiete.
Worm und seine Kollegen haben nach dem Studium von 48 solcher Schutzzonen in aller Welt auch Anlass zur Hoffnung gefunden. "Die Artenvielfalt hat sich dort dramatisch erholt, und mit ihr die Produktivität und Stabilität der Ökosysteme", sagte Worm. "Die gute Nachricht lautet, dass es für eine Wende noch nicht zu spät ist."
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