China
Wo man sich Krankheit nicht leisten kann
Weil er zu wenig Geld hatte, ist ein chinesischer Bauer imK rankenhaus verblutet. Hunderte Millionen Arme in China können sich medizinische Versorgung nicht leisten. Jetzt verspricht die Zentralregierung Besserung.
Von Henrik Bork
Medizinische Versorgung in China
Peking - Xiang Tao hatte es noch rechtzeitig ins Krankenhaus geschafft. Dort aber verblutete er auf einem Flur, weil er nicht genug Bargeld dabei hatte.
Die Ärzte im Zentralen Eisenbahnkrankenhaus in Chengdu hatten 2000 Yuan (200 Euro) in bar verlangt, bevor sie den Patienten mit der Stichwunde im Bauch überhaupt ansehen wollten. "Wir hatten nur 200 Yuan", sagt einer von Xiangs Freunden. Er hatte die Ärzte vergeblich angefleht, das Leben seines Freundes zu retten.
Krankenversorgung ist in China für viele ärmere Bürger unbezahlbar geworden. Das kollektive Gesundheitssystem, das zu Zeiten Mao Zedongs zumindest eine Basisversorgung garantiert hatte, ist seit Beginn der Wirtschaftsreformen vor zwei Jahrzehnten zusammengebrochen.
Erst jetzt, nach vielen gewaltsamen Protesten in Chinas Krankenhäusern, beginnt die Kommunistische Partei, das Ausmaß des Problems wahrzunehmen.
Auf der Tagung des Nationalen Volkskongresses, Chinas von der Partei kontrolliertem Parlament, wird dem Volk derzeit mit viel blumiger Propaganda eine Besserung der Situation versprochen.
Seine Regierung wolle allen Chinesen "Zugang zu sicherer, effektiver und bequemer Medizin- und Gesundheitsversorgung zu vernünftigen Preisen" verschaffen, sagte Premier Wen Jiabao in dieser Woche vor den knapp 3000 Delegierten in der Großen Halle des Volkes.
Um dies zu erreichen, soll unter anderem das neue "ländliche kooperative Gesundheitssystem" ausgeweitet und besser finanziert werden, mit dem die Regierung bereits seit einigen Jahren eher erfolglos experimentiert.
"Tochter zu verkaufen"
Besonders auf dem Land, wo Hunderte Millionen armer Bauern leben, ist krank werden oder einen Unfall haben oft gleichbedeutend mit dem finanziellen Ruin.
An der Mauer des Krankenhauses Nummer Eins in Nanjing klebte kürzlich ein Zettel. "Wer 30 000 Yuan hat, um meine 18-jährige Tochter zu kaufen, der kann sich bei Zhang Cuiying melden. Mein Mann hat sich verbrüht. Wir sind vom Land und sind verzweifelt, weil wir keine andere Möglichkeit haben, das Geld für seine Behandlung zu finden."
Der Patient, der 41-jährige Wang Wei aus einem kleinen Ort in der Provinz Anhui, lag nach seinem Unfall auf Station 6 des Krankenhauses. Er brauchte Hauttransplantationen für seine Verbrühungen, die 80 Prozent seiner Haut zerstört hatten.
Zhang Cuiying, seine Frau, hatte sich bereits mit den 38.000 Yuan für die Grundbehandlung verschuldet. Doch die Operation würde 80.000 Yuan (8000 Euro) kosten, berichtete die Nanjinger Morgenpost. "Wir wollen unsere Tochter nicht verkaufen, aber wir sehen keinen anderen Ausweg", sagte die Frau.
Seit den achtziger Jahren, als Chinas Führung mit der Marktwirtschaft zu experimentieren begann, sind die Krankenhäuser des Landes zur Eigenfinanzierung gezwungen.
Und trotz robusten Wirtschaftswachstums sanken die Gesundheitsausgaben der Regierung zwischen 1995 und 2005 stetig. Die Krankenhäuser müssen Bargeld verlangen, weil die meisten Chinesen noch immer keine Krankenversicherung haben.
Erst jetzt, nach zwei Jahrzehnten oft enormen Leidens für Millionen Menschen, reagiert die Zentrale.
Der Premier sagte in dieser Woche, Ziel sei, dass 80 Prozent aller
Landkreise, Provinzstädte und Stadtbezirke des Landes das kooperative Gesundheitssystem einführten.
Diese Krankenversicherung kostet arme Chinesen nur 10 Yuan (einen Euro) im Jahr. Lokal- und Zentralregierung zahlen zusammen 40 Yuan (vier Euro) pro Person dazu. Den Patienten wird allerdings im Schnitt nur ein Viertel ihrer Krankenkosten zurückerstattet.
Und eigentlich steht bereits fest, dass selbst dieses neue Ziel der Zentrale nicht erreicht werden kann. "Viele Landkreise und Provinzstädte haben nicht die Finanzkraft, um ihren Anteil in den Gesundheitsfonds einzuzahlen", sagt Professor Li Ling vom Wirtschaftsforschungsinstitut der Peking Universität.
Das Ergebnis ist, dass viele Menschen überhaupt nicht zum Arzt oder ins Krankenhaus gehen. Einer landesweiten Umfrage zufolge haben 73 Prozent aller Chinesen bereits mindestens einmal auf medizinische Versorgung verzichtet.
Und 45 Prozent aller Bauern laufen aus dem Krankenhaus davon, bevor sie geheilt sind. In Chinas Dörfern kursiert folgendes Sprichwort: "Wenn die Sirene des Krankenwagens aufheult, muss ein Schwein zum Markt getragen werden. Einmal im Krankenhausbett schlafen, und ein Jahr Feldarbeit war umsonst."
(SZ vom 9.3.2007)