Als Syrer, der einen aufgeklärten Islam vertritt und für Respekt gegenüber Frauen einsteht, sage ich: Das war ein kulturell verankerter Racheakt. Was hier zu kritisieren ist, ist nicht nur die so oft beklagte falsche Toleranz, sondern auch die Unwissenheit über andere Kulturen.
Der Konflikt in Syrien zwischen Sunniten und Alawiten, der sich zu einem blutigen Krieg entwickelt hat, wird uns noch jahrelang begleiten. Die Zahl der Toten beträgt inzwischen etwa eine halbe Million Syrer, darunter hunderttausend Alawiten, der Rest sind Sunniten. Diese Kategorie von Konflikten ist schwer zu lösen. Ein Beispiel hierfür aus der Vergangenheit ist auch der Libanon-Konflikt zwischen Christen und Muslimen, der von 1975 bis 1990, also 15 Jahre gedauert hat.
Die Religion gehört Allah
In Syrien hat der Konflikt eine lange Geschichte. Die syrische Hauptstadt Damaskus ist die älteste noch bewohnte Stadt der Welt; sie war von 661 bis 750 die Hauptstadt des Omayyaden-Reiches, also des ersten imperialen Kalifats im Islam, das sich von Spanien bis West-China erstreckte.
Im späten 19. Jahrhundert wurde von Christen und Muslimen die europäische Idee der Nation übernommen, in der beide gleichberechtigt lebten (also anders als im Kalifat, wo die Christen als Gläubige zweiter Klasse galten). Daraus ging der säkulare Panarabismus hervor. Nach der Auflösung des Osmanischen Reiches wurde Syrien 1920 bis 1945 französisches Mandatsgebiet, danach eine unabhängige, säkulare Republik.
In diesem säkularen Syrien bin ich 1944 in Damaskus als Sprössling der Ashraf-Aristokraten-Familie Banu al-Tibi geboren. Unsere Werteorientierung war: Die Religion gehört Allah, aber das Vaterland allen. So dachte die sunnitische Mehrheit, etwa 70 Prozent, und lebte mit einer Vielzahl von religiösen und ethnischen Minderheiten in gegenseitigem Respekt.
Blutige Rachegelüste
Damaskus war eine friedliche Stadt mit einem Christen- und einem Kurdenviertel. Das änderte sich nach 1970, als der alawitisch-schiitische General Hafiz al-Assad die Macht ergriff. In den folgenden Jahren gelang es ihm, alle Schlüsselpositionen in Armee und Sicherheitsdiensten mit Alawiten zu besetzen.
Inspiriert vom Arabischen Frühling 2011 gab es einen Aufstand der sunnitischen Mehrheit gegen die Alawiten-Herrschaft. Daraus ging der gegenwärtige Krieg hervor. Eine blutige und mit Rachegelüsten beladene Feindeslinie zwischen Sunniten und Alawiten charakterisiert diesen Konflikt. Alawiten und Sunniten haben keine gemeinsame Zukunft.
Diesen Konflikt können weder regionale noch internationale Mächte in den Griff bekommen. Im Syrien-Konflikt ist es wichtig zu verstehen, dass Putin nicht aus Sympathie für Assad seine russische militärische Macht einsetzt, sondern allein in dem Bestreben, den Westen zu zwingen, Russland als gleichwertigen Akteur anzuerkennen. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2016 wurde deutlich, dass Putin dieses Ziel erreicht hat.
Der Syrienkonflikt ist beispielhaft für einen laufenden Prozess des Staatszerfalls in Nahost. Dieser findet gegenwärtig auch im Irak, in Libyen und im Jemen statt. Die Folge hiervon wird sein, dass in den nächsten Jahren gewaltige demografische Lawinen auf Europa zukommen.
Deutschland gilt dank der Einladung von Kanzlerin Merkel als Hauptziel der Flüchtlinge. Die anderen Europäer machen aber nicht mit. Der Kinderstreit zwischen allen deutschen Parteien über Obergrenzen und eine Limitierung der Zahl belegt, dass deutsche Politikerinnen und Politiker die Dimension der Probleme nicht verstehen.
Bundeskanzlerin Merkel hat sich Anfang 2015 nach den Morden in Paris an einer öffentlichen Demonstration in Berlin Schulter an Schulter mit Islamfunktionären beteiligt, die einen europäischen Islam heftig bekämpfen – und sie weiß noch nicht einmal, was sie da tut. Ihre Syrien- und Flüchtlingspolitik liegt auf dieser Linie.
Während deutsche Politiker und deutsche Gutmenschen "in einem deutschen Pathos des Absoluten" (Adorno) über Toleranz und das Elend der Flüchtlinge reden, lachen viele Islamisten verächtlich und nennen diese Debatten "byzantinisches Geschwätz".
Weit und breit kein Euro-Islam
Der Ursprung des Begriffs ist aufschlussreich: Im Jahre 1453 wurde die byzantinische Hauptstadt Konstantinopel von einer islamisch-osmanischen Armee belagert. Während dieser Belagerung erschöpften sich Byzantiner und christliche Mönche trotz des Ernstes der Lage in Debatten über magische und religiöse Formeln.
Im selben Jahr, 1453, eroberte der islamische Sultan Mehmed II. mit seinen Truppen erfolgreich Konstantinopel und verwandelte die Stadt in ein islamisches Istanbul. Islamische Historiker nennen solche Debatten darum seit jener Zeit "byzantinisches Geschwätz".
Als Syrer aus Damaskus lebe ich seit 1962 in Deutschland, und ich weiß: Patriarchalisch gesinnte Männer aus einer frauenfeindlichen Kultur lassen sich nicht integrieren. Ein europäischer, ziviler Islam, den die Islamfunktionäre hierzulande als Euro-Islam ablehnen, wäre die Alternative. Zurzeit ist er chancenlos. Mein Lehrer Max Horkheimer hat Europa als "Insel der Freiheit im Ozean der Gewaltherrschaft" bezeichnet. Diese Freiheit sehe ich heute gefährdet.