MORBIDES WISSEN Teil 38:
Die Scheintodängste reichen bis ins Mittelalter zurück. 1357 soll auf dem Kölner Friedhof eine Frau namens Richmuth ihrem Grab entstiegen sein, als der Totengräber und sein Knecht es öffneten, um sie ihrer Grabbeigaben zu berauben. Doch zur kollektiven Angst, ja Hysterie geriet die Vorstellung vom Scheintod erst im 18. und dann vor allem im 19. Jahrhundert. Der Scheintote, so glaubte man, verfüge über einen fortdauernden Blutkreislauf, ein intaktes Nervensystem und alle weiteren lebenswichtigen Funktionen, wenn auch auf ein Minimum beschränkt (vita minima,vita reducta). Dies führte zu teilweise kurios anmutenden Vorsichtsmaßnahmen und testamentarischen Bestimmungen vom Abtrennen des kleinen Fingers bis hin zur Enthauptung. Man forderte eine gewissenhafte Feststellung des Todes und die beginnende Verwesung als Voraussetzung für die Freigabe der Leiche zur Bestattung. In Graz vollzog man bis ins 20. Jahrhundert den Herzstich, um sicherzustellen, dass der zu Beerdigende tatsächlich tot sei: War man es nicht bereits, so jetzt mit Sicherheit.
Drei Forderungen sollten ein frühzeitiges Begräbnis verhindern: a) die ausreichende Wartezeit bis zum Begräbnis, b) die gewissenhafte Feststellung des Todes und c) der Bau von Leichenhäusern. Die letzte Forderung erfüllte sich 1792 mit dem ersten Leichenhaus Deutschlands in Weimar. Als ideales Leichenhaus wurde ein Rundbau angesehen mit dem Zimmer für eine Aufsichtsperson in der Mitte; von hier aus konnte man die Körper der Verstorbenen beobachten und eventuelle Lebenszeichen wahrnehmen. In Weimar unterstützte den Wächter ein akustisches Signal, das durch eine Konstruktion aus Fäden und Glöckchen, die an den Fingern und Zehen der Leichen befestigt waren, hervorgerufen wurde. Diese Erfindung des Begründers des Leichenhauses, Dr. Christoph Wilhelm Hufeland, diente dazu, auch die kleinste Bewegung eines "Patienten" zu melden.