So, Doro...
*hinsetz*
*Buch aufschlag*
"Und Ihr werdet die Wahrheit erkennen,
und die Wahrheit wird Euch frei machen.
Evangelium d. Johannes ; 8:32
Geschichte ist ein Roman, der gelebt wurde,
ein Roman ist Geschichte, wie sie hätte sein können.
E. und J. de Goncourt
Verlorene Zeit findet sich niemals wieder.
mittelalterl. okzitanisches Sprichwort
Prolog
Pic de Soularac, Sabarthès-Berge, SW-Frankreich - Mo,4.Juli 2005
Ein dünner Blutfaden läuft die blasse Innenseite ihres Arms wie ein roter Saum auf einem weißen Ärmel hinunter.
Zuerst hält Alice es für eine Fliege und achtet nicht weiter darauf. Insekten gehören zum Berufsrisiko bei einer Ausgrabung, und aus unerfindlichen Gründen sind weiter oben auf dem Berg, wo sie arbeitet, mehr Fliegen als unten an der Hauptausgrabungsstätte. Dann fällt ihr ein Tropfen Blut auf das nackte Bein und zerspritzt wie ein Feuerwerkskörper am nächtlichen Sylvesterhimmel.
Diesmal schaut sie auf ihren Arm und sieht, dass der Schnitt innen am Ellbogen wieder aufgegangen ist. Es ist eine tiefe Wunde, die einfach nicht heilen will. Sie seufzt, drückt dann das Pflaster mit dem Mull darunter fester auf die Haut. Dann, weil keiner da ist, der es sehen könnte, leckt sie sich das Blut vom Handgelenk.
[...]
Alice schraubt ihre Wasserflasche auf. Das Wasser ist warm, aber sie ist durstig und trinkt es in langen Zügen.Unterhalb von ihr flimmert der Hitzeschleier über dem rissigen Asphalt der Straße. Über ihr ist der Himmel endlos blau. Die Zikaden singen unermüdlich im Chor, versteckt im Schutz des trockenen Grases.
Sie ist das erste Mal in den Pyrenäen, aber sie fühlt sich hier richtig zu Hause.
[...]
Alice überlegt, ob sie hinunter zu ihren Freunden und Kollegen gehen und sich den Arm neu verbinden lassen soll. Die Wunde brennt, und die Beine tun ihr vom ständigen Hocken weh. Ihre Schultermuskeln sind verkrampft. Doch sie weiß, wenn sie jetzt aufhört, verliert sie den Schwung.
Vielleicht hat sie ja bald Glück. Am frühen Morgen hat sie ein Blinken unter einem großen Felsbrocken gesehen, der sauber und ordentlich am Berghang lehnt, fast so, als hätte ihn eine riesige Hand absichtlich so hingestellt. Sie kann zwar nicht erkennen, um was es sich bei dem Gegenstand handelt, nicht einmal, wie groß er ist, doch sie gräbt schon den ganzen Morgen und müsste bald am Ziel sein.
Sie weiß, dass sie einen von den anderen dazuholen sollte.
[...]
In den nächsten Tagen und Wochen wird sich Alice an diesen Augenblick zurückdenken. Sie wird sich an das besondere Licht erinnern, an den metallischen Geschmack von Blut und Staub im Mund, und sie wird sich fragen, wie anders alles gekommen wäre, wenn sie sich entschieden hätte, ins Camp zu gehen und nicht zu bleiben. Wenn sie sich an die Regeln gehalten hätte.
[...]Sie spürt die Schweißperlen auf der Oberlippe und zwischen den Brüsten, aber sie macht weiter, bis die Lücke unter dem Felsen schließlich so groß ist, dass sie die Hand hineinschieben kann.
[...]Es fühlt sich glatt und schmutzig an, Metall, kein Stein. Entschlossen greift sie danach und ermahnt sich, nicht zu viel zu erwarten, zieht dann den Gegenstand ganz langsam ans Licht. Die Erde scheint zu erschaudern, als wollte sie ihren Schatz nicht hergeben."
*Buch zuklapp*
So, Doro, Schlafenszeit!
*Doro einen Kuss auf die Stirn drück*
Gute Nacht!
*Licht lösch*
*Türe schließ*
[flüster]
Nachtschicht!

[/flüster]