Ganz gute Reportage heute im Hamburger abendbaltt zum Thema (gibt doch noch anständige Journalisten):
ERFURT-BLUTBAD
Werte - Was hält uns noch zusammen?
Nach dem Amoklauf eines 19-Jährigen fragen wir uns einmal mehr: Was läuft falsch in unserer Gesellschaft? War früher alles besser? Und: Was können wir tun?
Von Holger Dohmen
Hamburg - Ältere Menschen neigen dazu, die Vergangenheit zu verklären. Der Autor dieser Zeilen ist selber nicht frei davon. So etwas wie das Blutbad von Erfurt hat es früher doch nicht gegeben, sagen wir uns und stellen Fragen. Was läuft falsch in dieser Gesellschaft? Gibt es noch Konsens über die Grundwerte, die diesen Staat zusammenhalten? Welches sind diese Werte überhaupt? Versagen Eltern und Lehrer gleichermaßen - und warum erreichen wir in vielen Fällen unsere Kinder nicht mehr?
Wir stellen diese Fragen immer erst dann, wenn es zu spät ist. Und so wird auch jetzt wieder diskutiert, psychologisiert und analysiert, bis neue Ereignisse unsere Aufmerksamkeit einfangen. Menschliches Schicksal, weil niemand ständig mit Angst und Tod und eigenem Versagen leben kann? Oder Oberflächlichkeit einer Gesellschaft, die sich in ihrer Kurzatmigkeit vom Studium des Menschlichen verabschiedet hat?
Versuchen wir eine Deutung. Alles Gute wünschen die Eltern des 19-jährigen Massenmörders am Tag der Tat ihrem Sohn für die Abiturarbeit. Sie wissen nicht, dass der junge Mann gar nicht mehr zur Schule geht. Hat es da nie Nachfragen gegeben? Kein abendliches Gespräch, in dem die Eltern wissen wollten, um welche Themen es in der Arbeit gehen könnte? Keine Zusammenarbeit von Klassenkameraden vorher bei schwierigen Aufgaben in ihrem Haus? Und auch keine Benachrichtigung der Schule, wie es um den Jungen stand? Offensichtlich nicht.
Ein junger Mann wächst ohne Kontakt zu seinen Nächsten heran, findet Gemeinschaft ausgerechnet in einem Schießclub. Die Schule informiert die Eltern nicht über die Relegation, schließlich ist der Junge volljährig. Wie es in seinem Innern aussieht, weiß niemand wirklich, interessiert offensichtlich auch niemanden. Selbst für starke, für gefestigte Menschen, kann das eine schwierige Situation werden.
Aber es ist keine neue Situation. Sage niemand, solche Schicksale seien ihm nicht bekannt. Wir finden sie in diesem Land täglich - in den so genannten besten Familien, genauso wie in sozialen Brennpunkten. Gott sei Dank entladen sie sich nur in Ausnahmen auf so grausame Weise wie in Erfurt.
Nein, unsere Jugend ist auch nicht schlechter als früher. Auch wenn wir Erwachsenen viel tun, um ihnen das einzureden. Konsumkids, Spaßversessene, Hedonisten - all dies sind eigentlich gedankenlose Charakterisierungen mit negativem Beigeschmack. Aber hinter diesen Metaphern stehen Geschöpfe, Kinder, die nur dann zu verantwortungsvollen Mitgliedern unserer Gesellschaft heranwachsen können, wenn wir ihnen dabei helfen. Wenn wir, die Älteren, Erfahrungen weitergeben. Wir haben sie doch, die positive Erinnerung an die prägende Wirkung von Nachkriegszeit und Wirtschaftswunder mit ihrem Regelwerk und Gemeinschaftssinn. Auch mit ihrem Verzicht.
Wir haben sie doch, die Erkenntnis, dass Mauern nur eingerissen werden sollten, wenn die Belastbarkeit neuer Fundamente geprüft worden ist. Doch was blieb übrig von der geistig-moralischen Wende wie sie anfang der 80er-Jahre groß angekündigt wurde? Weder von der Politik noch von den Kirchen wurde die Diskussion geführt, wie den neuen Herausforderungen begegnet werden sollte.
In dieser Situation wurde es Mode, für alle Erziehungsprobleme die Schule haftbar zu machen. Jene machen es sich aber zu leicht, die voreilig den Lehrern alle Schuld zuschieben. Schule als Reparaturbetrieb der elterlichen Verantwortung, darauf hat nie ein Pädagogikstudium vorbereitet. Und wo sollen die Spezialisten herkommen, die sich hauptberuflich mit Schülersorgen beschäftigen, wenn Schule jahrelang finanziell ausgetrocknet wurde?
Der Hamburger Erziehungswissenschaftler Peter Struck beklagte in dieser Zeitung, dass seit 1990 Lehrer- und Arbeitsplatzbeschreibung einerseits und Kinder- und Jugendkulturtrends andererseits immer weiter auseinander fielen. Die Schule habe den Anschluss an die gesellschaftliche Entwicklung verpasst.
Das mag den schulischen Teil unserer Wirklichkeit beschreiben. Doch die neue Unübersichtlichkeit, die mit der modernen Dienstleistungs- und Mediengesellschaft hereingebrochen ist, stellt weitergehende Anforderungen. Ellenbogenmentalität, Leistungsstress, Individualisierung heißen die Götter dieser Moderne, weniger Loyalität, Verlässlichkeit, ja Liebe.
Innenminister Otto Schily sprach in diesem Zusammenhang in den vergangenen Tagen immer wieder vom Verlust eines Wertekorsetts, das unsere Gesellschaft zusammenhält. Das ist die Bestandsaufnahme. Aber wo ist die Therapie dieser Krankheit?
Mehr Drill, mehr Disziplin? Gerade eben noch hat uns die Pisa-Studie ein Land wie Japan als vorbildlich bei der Weitergabe von Bildung empfohlen. Waren die Verfasser dieser Studie jemals in Fernost? In keinem Land gibt es so viele jugendliche Selbstmörder wie in Japan.
Nein, wir brauchen über die neue Unübersichtlichkeit unseres Lebens bitter nötig eine öffentliche Debatte, die nicht nur aufflammt, wenn Dinge wie in Erfurt geschehen. Wir brauchen diese Debatte in der Keimzelle unserer Gesellschaft, der Familie, wie auch in den Schulen. Wir brauchen sie auch in der Politik. Und wir brauchen sie permanent. Das wird Gewalt nicht vollständig beseitigen, kann aber helfen, Ordnung in das große Durcheinander zu bringen, in das Vereinsamung, verworrene Familienverhältnisse, übermäßiger gewaltorientierter Fernseh- und Videokonsum führen.
Der Direktor des Europäischen Medieninstituts, Professor Joe Groebel, hat gerade eben eine Studie vorgelegt, die nichts Gutes für die Zukunft verheißt. Danach sehen viele Jugendliche in der selbstverständlichen täglichen Gewaltpräsentation etwas Normales. Die Gewöhnung an extreme Formen der Gewalt führe aber zu einer Abnahme des Mitgefühls mit den Opfern und werde schließlich durch die mangelnde Trennung zwischen Realität und Fiktion langfristig das Welt- und Menschenbild vieler Jugendlicher verändern, schreibt Groebel. Damit es dazu nicht kommt, müssen die Ereignisse von Erfurt dauerhafte Mahnung sein.