Das ist die Siegerarbeit des Wettbewerbs „Pflege schreibt 2007“ von Claudia Styrsky
in bezug mal auf die aktuellen streiks im öffentlichen dienst und die zustände in krankenhäusern....lest es und bedenkt, dass es der realität entspricht und sogar noch schlimmer geht. ich könnte wohl drüber heulen, aber nein, ich geh gleich lieber wieder da hin
"Es ist einer jener Tage, an denen man spätestens beim Zähneputzen merkt, dass er voraussichtlich nicht zu den guten zählen wird. Als ich bei 30 Grad im Schatten zum Spätdienst aus dem Haus hetze, habe ich bereits ein halbes Dutzend mittlerer Katastrophen hinter mir und bin zudem spät dran. In der Umkleide unserer Notaufnahme angekommen, bin ich bereits schweißgebadet. Danke Gott für die Erfindung des Deos und bitte mach, dass es hält, was seine meerblaue Aufschrift verspricht.
Ich schaffe es nicht einmal mehr bis zum Aufenthaltsraum – ein Königreich für einen Schluck Wasser! –, weil mich schon im Flur der erste Sanitäter bremst.
„Einmal Intern! Vom Bereitschaftsdienst aus dem Altenheim eingewiesen mit unklarer Somnolenz …“
Hilfe suchend blicke ich mich um – ich hatte die leise Hoffnung, dass noch jemand anderer da wäre, der die Patientin entgegennehmen könnte. Wie unkollegial, aber inzwischen werde ich die Fata Morgana einer sprudelnden Bergquelle vor meinen Augen nicht mehr los.
„Schön, dass du da bist!“, tönt es da hinter mir, und ich sehe im Augenwinkel meine Kollegin Anna von einem Behandlungsraum in den nächsten fliegen, während es mit einem Krachen durch die Sprechanlage tönt: „Ich brauche jetzt wirklich mal eine Schwester auf 3!“
Schon gut, ich hab’s kapiert. Sturmwarnung, Schluss mit durstig.
Also höre ich mir die wenig aufschlussreiche Übergabe der Sanitäter zu Ende an, während wir Frau Reichel, 94, auf die letzte freie Notfallliege umbetten. Sie reagiert auf die etwas ungestüme Aktion kurz mit einem angstvollen Augenaufschlag und krümmt sich dann wieder wie eine Handvoll Elend unter der Decke zusammen. Als ich ihren rasenden Puls taste, fühlt sich ihr streichholzdünnes Ärmchen heißer an als die Kühlerhaube meines Autos. „Unklare Somnolenz“, denke ich nur und fra
ge mich, ob Bereitschaftsärzte wirklich so schlecht bezahlt werden, dass sie sich kein Fieberthermometer leisten können.
Die folgende Suche nach einem freien Behandlungsraum gleicht einer Odyssee, denn aus jedem Eck starren mich bereits mehr oder weniger blasse, aber allesamt vorwurfsvolle Gesichter an, die vermuten lassen, dass die Wartezeit heute wieder mal besonders lang ist.
Wer hat Dienst von den Ärzten? Es gibt da so ein paar hoch motivierte Frischlinge, die unsere Notaufnahme immer noch mit einer interstellaren Forschungseinrichtung verwechseln und glauben, Patienten dürften erst dann auf eine Station verlegt werden, wenn auch die Kinderkrankheiten ihrer Eltern im Anamnesebogen erfasst sind.
In Wirklichkeit dagegen sind wir ein altes 400BettenHaus am Großstadtrand, das versucht, mit dem rapiden Wachstum des Patientendurchlaufs Schritt zu halten und dessen ständiger Improvisationsstatus nur Chaostheoretikern das Wort „funktional“ entlocken würde.
Vor zwei Jahren schließlich hat der öffentliche Träger vor der Gesundheitsreform und dem Loch in seinem Haushaltsbudget kapituliert, hat die stationäre Krankenversorgung – und somit in gewisser Weise das Schicksal der Bevölkerung dieses Stadtteils – einer Aktiengesellschaft überlassen.
Seitdem wurden aus unseren Patienten Kunden, man hat kräftig in medizinische Großgeräte investiert und peitscht selbst kleinste Fachabteilungen unerbittlich in Richtung QMZertifizierung. Mit der Sensibilität einer Motorsäge ist das neue Management dem Wurzelwerk Jahrzehnte alter Strukturen vom ersten Tag an zu Leibe gerückt und hat ganze Abteilungen entsorgt, indem es diese kurzerhand „outgesourced“, sprich an externe Anbieter verkauft hat. Damit hat der moderne Menschenhandel in unserem Alltag Einzug gehalten, dafür musste das Prinzip Hoffnung gehen, ebenso wie fast zehn Prozent der Mitarbeiter.
Während darüber nachgedacht wird, auf den Privatstationen mobile Kühlschränke für die Patienten anzuschaffen, sitzen Ärzte und Pflegepersonal auf einem Überstundenberg, und die Zahl der Krankheitstage ist so hoch wie nie zuvor. Wir arbeiten am Leistungslimit – aber bitte, keiner darf es merken!
Nur, wieso häufen sich dann die Beschwerden über einen unfreundlichen Ton, mangelnde Zuwendung und schlampige Behandlung? Wieso weisen umliegende Hausärzte ihre Patienten vermehrt in andere Krankenhäuser ein, und wieso verlassen uns immer öfter Patienten mit einem „Also, medizinisch wurde mir ja geholfen – aber noch mal würde ich mich hier nicht gerne behandeln lassen. Sie wissen schon, warum …“
Wir, die unseren Patienten täglich in die Augen sehen, wissen es und fühlen uns zu beschämten Entschuldigungen verpflichtet. Es ist bitter, zugeben zu müssen, dass man seine eigenen Ansprüche an die Arbeit ebenso schwinden sieht wie die Zufriedenheit der Patienten.
Nur die Geschäftsführung bleibt optimistisch und tönt: „Wir haben die Zeichen der Zeit erkannt und sind auf einem guten Weg!“
Zugegeben, personeller Aderlass, aggressive Bettenpolitik und ein messerscharfes Abrechnungssystem haben „uns“ innerhalb kürzester Zeit bereits dicke schwarze Zahlen beschert, und der neue Tarifvertrag gönnt jedem Mitarbeiter ein paar Prozent davon.
Vielleicht wäre es ja eine gute Idee, den Verlust von Urlaubs und Weihnachtsgeld ansatzweise durch den Erwerb hauseige
ner Aktien auszugleichen? Was spricht denn schon dagegen, in Zukunft jede gebrochene Hüfte als Rendite zu betrachten? Ein Schelm, wer sich Böses dabei denkt!
In der Zwischenzeit habe ich mir einen Sauerstoffanschluss erobert und mit der Erstversorgung meiner Kundin begonnen. Es gelingt mir noch das Anschließen einer Infusion, da schreckt mich ein schrilles „Hilfe!“ aus dem Nebenraum auf. Nachdem ich den dementen Herrn dort wieder beruhigt und seine Beine aus den Sicherheitsgittern der Trage entknotet, eine Dame von der Bettschüssel erlöst und mit meiner Kollegin zusammen das Schlachtfeld einer Kreissägenverletzung aufgeräumt habe, kann ich endlich ein EKG bei Frau Reichel schreiben, bevor der Notarzt uns mit einem akuten Schlaganfall wieder aus dem gerade schwer erkämpften Behandlungsraum verscheucht.
Die nächsten drei Stunden lernt Frau Reichel fast unsere gesamten Räumlichkeiten kennen, denn irgendwie kommen immer andere, dringendere Fälle, die ihren Raum, ihren Arzt und meine Zeit benötigen.
Sie muss eben warten, wir können nicht zaubern, sie sei fürs Erste ja versorgt, und ob sie nun auf Station liege oder bei uns auf dem Gang, was mache das schon für einen Unterschied? Sie schliefe doch sowieso, und bei 39,5 Fieber sei es das Beste, was sie tun könne, oder?
Grollend füge ich mich der Argumentation des jungen Dienstarztes. Ich weiß, dass er sich insgeheim um die aufwändige Anamnese drückt, weil Frau Reichel noch nie Patientin bei uns war, es keine Krankenakte gibt und auch der Pflegeverlegungsbericht aus dem Altenheim mit seinen einheitlichen Kreuzen bei „unselbstständig“ die Aussagekraft eines Lottoscheins hat. Jetzt wäre eine elektronische Patientenakte auf der Krankenkassenkarte wirklich hilfreich.
Ein unklares Abdomen und zwei hypertensive Krisen später finde ich Frau Reichel zwischen Lager und Personaltoilette beiseite geschoben wieder. Die Infusion und ein fiebersenkendes Medikament, dessen Anordnung ich mir zwischen Tür und Angel noch erbettelt habe, zeigen inzwischen etwas Wirkung.
Sie öffnet die Augen, als ich nach ihrem Handgelenk greife, um den Puls zu kontrollieren.
„Hallo!“, sage ich und versuche, ihr das freundlichste Lächeln zu schenken, zu dem ich noch fähig bin.
Ich blicke in ein eingefallenes, zerfurchtes Gesicht, aus dem mich zwei Höhlen anstarren, in denen vielleicht einmal wunderschöne hellblaue Augen waren. Jetzt ist da nur milchige Leere –ich weiß nicht, ob sie mich überhaupt sehen kann.
Die Pflicht schlägt durch, und ich frage in antrainierter Lautstärke für Menschen über 70, ob sie Schmerzen hat. Die schmale Linie über dem zahnlosen Kiefer zuckt ein wenig. Man könnte es als den Versuch eines Lächelns interpretieren, oder aber ich habe sie mit meiner akustischen Attacke einfach nur erschreckt. Könnte natürlich auch heißen: „Ja!“
Ich versuche es noch mal, etwas leiser, dafür näher an ihrem Ohr: „Tut was weh?“
Auf einmal spüre ich, wie Fingerspitzen mir über die Wange streichen, und jetzt bin ich es, die zusammenzuckt. Reflexartig greife ich nach Frau Reichels Hand und führe sie mit sanftem Druck wieder nach unten. Ich kann deutlich spüren, wie ihr steifer Ellbogen sich in der Bewegung sperrt, weil es sie alle Kraft gekostet hat, ihn anzuheben.
Zwei Atemzüge lang halten wir uns gegenseitig, und es geschieht etwas, das bei mir immer seltener geworden ist in letzter Zeit.
Jene Mauer stürzt ein, die selbst mit freundlichsten Worten geformt, doch stets in grausames Du und Ich trennt. Dann plötzlich, im Schweigen, verschwindet die Grenze, hören zwei Menschen einander zu, öffnet sich ein Verstehen jenseits des „Ich weiß!“ Dem Hauch einer vorbeifliegenden Mücke gleich, streift mich die Ahnung von der Welt eines anderen Menschen, erreicht mein Innerstes mit der Kraft einer Adlerschwinge und bringt dort etwas Unvergleichliches zum Vibrieren. Moosweiche Wärme kuschelt sich in meine Körpermitte, strahlt von dort aus in jede Muskelfaser und springt letztlich wieder hinüber zu dem Anderen, der in seiner Einsamkeit dem seelischen Erfrieren nahe scheint.
in bezug mal auf die aktuellen streiks im öffentlichen dienst und die zustände in krankenhäusern....lest es und bedenkt, dass es der realität entspricht und sogar noch schlimmer geht. ich könnte wohl drüber heulen, aber nein, ich geh gleich lieber wieder da hin
"Es ist einer jener Tage, an denen man spätestens beim Zähneputzen merkt, dass er voraussichtlich nicht zu den guten zählen wird. Als ich bei 30 Grad im Schatten zum Spätdienst aus dem Haus hetze, habe ich bereits ein halbes Dutzend mittlerer Katastrophen hinter mir und bin zudem spät dran. In der Umkleide unserer Notaufnahme angekommen, bin ich bereits schweißgebadet. Danke Gott für die Erfindung des Deos und bitte mach, dass es hält, was seine meerblaue Aufschrift verspricht.
Ich schaffe es nicht einmal mehr bis zum Aufenthaltsraum – ein Königreich für einen Schluck Wasser! –, weil mich schon im Flur der erste Sanitäter bremst.
„Einmal Intern! Vom Bereitschaftsdienst aus dem Altenheim eingewiesen mit unklarer Somnolenz …“
Hilfe suchend blicke ich mich um – ich hatte die leise Hoffnung, dass noch jemand anderer da wäre, der die Patientin entgegennehmen könnte. Wie unkollegial, aber inzwischen werde ich die Fata Morgana einer sprudelnden Bergquelle vor meinen Augen nicht mehr los.
„Schön, dass du da bist!“, tönt es da hinter mir, und ich sehe im Augenwinkel meine Kollegin Anna von einem Behandlungsraum in den nächsten fliegen, während es mit einem Krachen durch die Sprechanlage tönt: „Ich brauche jetzt wirklich mal eine Schwester auf 3!“
Schon gut, ich hab’s kapiert. Sturmwarnung, Schluss mit durstig.
Also höre ich mir die wenig aufschlussreiche Übergabe der Sanitäter zu Ende an, während wir Frau Reichel, 94, auf die letzte freie Notfallliege umbetten. Sie reagiert auf die etwas ungestüme Aktion kurz mit einem angstvollen Augenaufschlag und krümmt sich dann wieder wie eine Handvoll Elend unter der Decke zusammen. Als ich ihren rasenden Puls taste, fühlt sich ihr streichholzdünnes Ärmchen heißer an als die Kühlerhaube meines Autos. „Unklare Somnolenz“, denke ich nur und fra
ge mich, ob Bereitschaftsärzte wirklich so schlecht bezahlt werden, dass sie sich kein Fieberthermometer leisten können.
Die folgende Suche nach einem freien Behandlungsraum gleicht einer Odyssee, denn aus jedem Eck starren mich bereits mehr oder weniger blasse, aber allesamt vorwurfsvolle Gesichter an, die vermuten lassen, dass die Wartezeit heute wieder mal besonders lang ist.
Wer hat Dienst von den Ärzten? Es gibt da so ein paar hoch motivierte Frischlinge, die unsere Notaufnahme immer noch mit einer interstellaren Forschungseinrichtung verwechseln und glauben, Patienten dürften erst dann auf eine Station verlegt werden, wenn auch die Kinderkrankheiten ihrer Eltern im Anamnesebogen erfasst sind.
In Wirklichkeit dagegen sind wir ein altes 400BettenHaus am Großstadtrand, das versucht, mit dem rapiden Wachstum des Patientendurchlaufs Schritt zu halten und dessen ständiger Improvisationsstatus nur Chaostheoretikern das Wort „funktional“ entlocken würde.
Vor zwei Jahren schließlich hat der öffentliche Träger vor der Gesundheitsreform und dem Loch in seinem Haushaltsbudget kapituliert, hat die stationäre Krankenversorgung – und somit in gewisser Weise das Schicksal der Bevölkerung dieses Stadtteils – einer Aktiengesellschaft überlassen.
Seitdem wurden aus unseren Patienten Kunden, man hat kräftig in medizinische Großgeräte investiert und peitscht selbst kleinste Fachabteilungen unerbittlich in Richtung QMZertifizierung. Mit der Sensibilität einer Motorsäge ist das neue Management dem Wurzelwerk Jahrzehnte alter Strukturen vom ersten Tag an zu Leibe gerückt und hat ganze Abteilungen entsorgt, indem es diese kurzerhand „outgesourced“, sprich an externe Anbieter verkauft hat. Damit hat der moderne Menschenhandel in unserem Alltag Einzug gehalten, dafür musste das Prinzip Hoffnung gehen, ebenso wie fast zehn Prozent der Mitarbeiter.
Während darüber nachgedacht wird, auf den Privatstationen mobile Kühlschränke für die Patienten anzuschaffen, sitzen Ärzte und Pflegepersonal auf einem Überstundenberg, und die Zahl der Krankheitstage ist so hoch wie nie zuvor. Wir arbeiten am Leistungslimit – aber bitte, keiner darf es merken!
Nur, wieso häufen sich dann die Beschwerden über einen unfreundlichen Ton, mangelnde Zuwendung und schlampige Behandlung? Wieso weisen umliegende Hausärzte ihre Patienten vermehrt in andere Krankenhäuser ein, und wieso verlassen uns immer öfter Patienten mit einem „Also, medizinisch wurde mir ja geholfen – aber noch mal würde ich mich hier nicht gerne behandeln lassen. Sie wissen schon, warum …“
Wir, die unseren Patienten täglich in die Augen sehen, wissen es und fühlen uns zu beschämten Entschuldigungen verpflichtet. Es ist bitter, zugeben zu müssen, dass man seine eigenen Ansprüche an die Arbeit ebenso schwinden sieht wie die Zufriedenheit der Patienten.
Nur die Geschäftsführung bleibt optimistisch und tönt: „Wir haben die Zeichen der Zeit erkannt und sind auf einem guten Weg!“
Zugegeben, personeller Aderlass, aggressive Bettenpolitik und ein messerscharfes Abrechnungssystem haben „uns“ innerhalb kürzester Zeit bereits dicke schwarze Zahlen beschert, und der neue Tarifvertrag gönnt jedem Mitarbeiter ein paar Prozent davon.
Vielleicht wäre es ja eine gute Idee, den Verlust von Urlaubs und Weihnachtsgeld ansatzweise durch den Erwerb hauseige
ner Aktien auszugleichen? Was spricht denn schon dagegen, in Zukunft jede gebrochene Hüfte als Rendite zu betrachten? Ein Schelm, wer sich Böses dabei denkt!
In der Zwischenzeit habe ich mir einen Sauerstoffanschluss erobert und mit der Erstversorgung meiner Kundin begonnen. Es gelingt mir noch das Anschließen einer Infusion, da schreckt mich ein schrilles „Hilfe!“ aus dem Nebenraum auf. Nachdem ich den dementen Herrn dort wieder beruhigt und seine Beine aus den Sicherheitsgittern der Trage entknotet, eine Dame von der Bettschüssel erlöst und mit meiner Kollegin zusammen das Schlachtfeld einer Kreissägenverletzung aufgeräumt habe, kann ich endlich ein EKG bei Frau Reichel schreiben, bevor der Notarzt uns mit einem akuten Schlaganfall wieder aus dem gerade schwer erkämpften Behandlungsraum verscheucht.
Die nächsten drei Stunden lernt Frau Reichel fast unsere gesamten Räumlichkeiten kennen, denn irgendwie kommen immer andere, dringendere Fälle, die ihren Raum, ihren Arzt und meine Zeit benötigen.
Sie muss eben warten, wir können nicht zaubern, sie sei fürs Erste ja versorgt, und ob sie nun auf Station liege oder bei uns auf dem Gang, was mache das schon für einen Unterschied? Sie schliefe doch sowieso, und bei 39,5 Fieber sei es das Beste, was sie tun könne, oder?
Grollend füge ich mich der Argumentation des jungen Dienstarztes. Ich weiß, dass er sich insgeheim um die aufwändige Anamnese drückt, weil Frau Reichel noch nie Patientin bei uns war, es keine Krankenakte gibt und auch der Pflegeverlegungsbericht aus dem Altenheim mit seinen einheitlichen Kreuzen bei „unselbstständig“ die Aussagekraft eines Lottoscheins hat. Jetzt wäre eine elektronische Patientenakte auf der Krankenkassenkarte wirklich hilfreich.
Ein unklares Abdomen und zwei hypertensive Krisen später finde ich Frau Reichel zwischen Lager und Personaltoilette beiseite geschoben wieder. Die Infusion und ein fiebersenkendes Medikament, dessen Anordnung ich mir zwischen Tür und Angel noch erbettelt habe, zeigen inzwischen etwas Wirkung.
Sie öffnet die Augen, als ich nach ihrem Handgelenk greife, um den Puls zu kontrollieren.
„Hallo!“, sage ich und versuche, ihr das freundlichste Lächeln zu schenken, zu dem ich noch fähig bin.
Ich blicke in ein eingefallenes, zerfurchtes Gesicht, aus dem mich zwei Höhlen anstarren, in denen vielleicht einmal wunderschöne hellblaue Augen waren. Jetzt ist da nur milchige Leere –ich weiß nicht, ob sie mich überhaupt sehen kann.
Die Pflicht schlägt durch, und ich frage in antrainierter Lautstärke für Menschen über 70, ob sie Schmerzen hat. Die schmale Linie über dem zahnlosen Kiefer zuckt ein wenig. Man könnte es als den Versuch eines Lächelns interpretieren, oder aber ich habe sie mit meiner akustischen Attacke einfach nur erschreckt. Könnte natürlich auch heißen: „Ja!“
Ich versuche es noch mal, etwas leiser, dafür näher an ihrem Ohr: „Tut was weh?“
Auf einmal spüre ich, wie Fingerspitzen mir über die Wange streichen, und jetzt bin ich es, die zusammenzuckt. Reflexartig greife ich nach Frau Reichels Hand und führe sie mit sanftem Druck wieder nach unten. Ich kann deutlich spüren, wie ihr steifer Ellbogen sich in der Bewegung sperrt, weil es sie alle Kraft gekostet hat, ihn anzuheben.
Zwei Atemzüge lang halten wir uns gegenseitig, und es geschieht etwas, das bei mir immer seltener geworden ist in letzter Zeit.
Jene Mauer stürzt ein, die selbst mit freundlichsten Worten geformt, doch stets in grausames Du und Ich trennt. Dann plötzlich, im Schweigen, verschwindet die Grenze, hören zwei Menschen einander zu, öffnet sich ein Verstehen jenseits des „Ich weiß!“ Dem Hauch einer vorbeifliegenden Mücke gleich, streift mich die Ahnung von der Welt eines anderen Menschen, erreicht mein Innerstes mit der Kraft einer Adlerschwinge und bringt dort etwas Unvergleichliches zum Vibrieren. Moosweiche Wärme kuschelt sich in meine Körpermitte, strahlt von dort aus in jede Muskelfaser und springt letztlich wieder hinüber zu dem Anderen, der in seiner Einsamkeit dem seelischen Erfrieren nahe scheint.