To Bon
Es ist unglaublich, wie viel Spaß man auf einer Gedenkfeier haben kann. Am 16. Februar 2002, nach einem Kabarettbesuch, bereiteten zwei Freunde und ich uns darauf vor, ein wenig zu trinken, ein wenig zu essen, ein paar Spiele zu spielen, Schwachsinn zu reden und, natürlich, viel gute Musik zu hören, wobei unser Hauptaugenmerk selbstverständlich auf AC/DC-Songs der Siebziger lag.
Der Tag, der die Grundlage unseres Beisammenseins war, war zwar erst der 19. Februar, aber im Gegensatz zum Vorfeiern eines Geburtstages bringt das Vor"feiern" eines Todestages sicher kein Unglück. Was soll schon noch passieren?
So verbrachten wir also eine Nacht im engsten Freundeskreis, sangen, tranken und untermalten unsere Dart-Turniere mit hypothetischen "Was-wäre-wenn-er-auf-der-Seite-gelegen-wäre"-Diskussionen.
Gegen sieben oder acht Uhr morgens beschlossen wir, doch noch unsere Schlafsäcke zu besteigen. Schlafsäcke deswegen, weil wir nicht zu Hause waren, sondern in einer Bude, die uns ein befreundeter Motorradclub (thanx Mad Dogs) zur Verfügung gestellt hatte. Es war wieder eine magische Nacht gewesen, und wie schon in den Vorjahren hatten wir auch heuer Bon Scott würdig zu Grabe getragen.
Am Dienstagabend, dem 19.2., war ich dann alleine zu Hause. Einerseits war ich, gerade an diesem Tag, nicht gerne alleine, andererseits wusste ich aber, dass keiner von meinen Freunden, die meine Laune an diesem Tag verstehen würden, greifbar war, und so blieb ich gemeinsam mit meiner 19. Februar-Stimmung zu Hause und hörte die eine oder andere der Nummern, die mein Leben geprägt hatten. Natürlich ist es unumgänglich, diesen Tag nicht mit 'Ride On' ausklingen zu lassen. Tieftraurig hörte ich zum wiederholten Male den Mann davon singen, wie er seinen guten Vorsatz fasste: "One of these days I'm gonna change my evil ways." Und wie immer verstärkte sich meine Trauer noch, als diesem Satz sein humorloses leises Lachen folgte, mit dem er schon damals das prophezeite, was vier Jahre später Wirklichkeit werden würde. Er würde es nicht schaffen. Ich schämte mich nicht, noch schnell eine Träne zu zerdrücken, bevor ich einschlief.
Ich hatte sofort so etwas wie einen Adrenalinstoß, als ich aufwachte. Es war noch dunkel. Kennt jemand das Gefühl, das man hat, wenn man im Dunkeln aufwacht und genau weiß, die Nacht ist noch lange nicht zu Ende?
Jemand saß neben meinem Bett.
Ganz ruhig wollte ich zum Lichtschalter tasten, aber nicht, um zu sehen, wer es ist. Nein, natürlich nicht. Ich wusste, dass er lächelt, und ich wollte es sehen. Aber seine Hand berührte meinen Arm und er sagte: "Lass es. Dein Licht ist zu grell. Wir gehen dahin, wo das Licht hell und warm ist."
Seine Hand war kalt.
Ich zog mich an, während er wartete. Leise verließen wir das Haus und gingen zur Straße. "Ich fahre", sagte er. Ich kann nicht mit Sicherheit behaupten, dass er Deutsch gesprochen hat, jedenfalls habe ich ihn verstanden und schreibe deswegen in meiner Sprache.
Wir fuhren einige Kilometer in einer Gegend, die ich kannte. Die lang gezogene, leicht ansteigende Rechtskurve, die in den Wald führt. Die enge Links-rechts-Kombination, die, leicht abfallend, wieder aus dem Wald herausführt. Die lange Gerade, die...
Verdammt. - Wo waren wir?
Vor uns lag eine riesige Stadt, die taghell erleuchtet war. Ich sah den Tower und dachte: "Aha", aber da waren wir gerade an einem Ortsschild vorbeigefahren, auf dem nicht "London" stand.
Wahnsinn. Nie hätte ich das gedacht. Oft mitgesungen, ja, aber nie wirklich daran gedacht: "Where the lights are bright, do the town tonight..."
Da ging ich hin, nach Sin City. Noch bevor ich mich überhaupt richtig hätte umsehen können, blieben wir stehen. Wir waren mittendrin, er musste gefahren sein wie der Teufel, aber davon hatte ich nichts mitgekriegt. Er stellte den Motor ab und grinste mich an mit diesem charismatischen Lächeln, und da sah ich ihn das erste Mal in echt, im richtigen Licht. Hätte ich mich nicht freuen sollen? Oder hätte ich nicht vielleicht Angst haben sollen? Drei Tage vorher hatte ich mich seines Todes wegen besoffen. Egal, ich fühlte nichts.
Er stieg aus, ich folgte ihm. Was sollte ich anderes tun? Wir gingen in den Club. "Music Machine" las ich da, er legte mir den Arm auf die Schulter, machte mit der anderen Hand eine ausholende Bewegung, die den ganzen Raum erfasste, sah mich an und sagte: "Mein Leben. Sieh es dir mal an. Amüsier dich, es ist genug für zwei da!"
Und wieder lachte er. Seine Augen strahlten, und sofort war er in der Menge. Ich stand plötzlich allein und dachte: "Hey, was jetzt?"
Eine Weile blieb ich einfach stehen und wusste nicht weiter, aber dann realisierte ich seine Aufforderung. Also ging ich zur Bar. Ich sah mir die Reihe der Flaschen an und stutzte. Was war das? Der Barkeeper hatte meine Blickrichtung richtig gedeutet und stellte mir die Flasche mit einem Glas hin.
"Du bist mit Bon hier, was? Ich erkenne seine Gäste an ihrem Blick auf diese Flasche. Sieh mich nicht so entgeistert an, Junge. Du bist nicht der Einzige mit ungewöhnlichen Wünschen. Wenn du Blut willst, sollst du es haben!"
Die Flasche wurde entkorkt, und ich bekam ein Glas voll. Ich musste es einfach kosten, das versteht ihr doch, oder?
Den Geschmack kennt im Grunde jeder. Nein, nicht dieser komische, ekelhafte, mit einem Schuss rostiger Nagel. Es schmeckte nicht wie Blut, aber es schmeckte nach Leben. Ich nahm es in einem Zug, und schon war ich dabei.
Plötzlich fühlte ich mich nicht mehr fremd. Ich redete mit Leuten, die ich nie gesehen hatte, lachte, hatte Spaß. Er war nirgends zu sehen. Aber dafür lernte ich einige Leute kennen, von denen er erzählt hatte. Einmal zum Beispiel hörte ich einen Mann lachend davon berichten, wie er dem Typen, den er unter seiner Frau gefunden hat, ein Loch in den Körper gemacht hat, "da, wo sein Leben gewesen ist."
"Und damit bist du davongekommen?", fragte eine Zuhörerin ungläubig.
"Fast", erwiderte der Mann und drehte sich um, damit wir das Einschussloch ansehen konnten, das die Gewehrkugel in seinem Rücken hinterlassen hatte.
"Mein Andenken an den Ausbruch", meinte er sarkastisch, als er sich umdrehte. Und dann, mit einem Grinsen, das ich nicht zu deuten wusste: "Was soll's? Es war alles im Namen der Freiheit."
Bon tauchte einmal kurz auf, als ich gerade auf einen Mann zuging, der einen sehr einsamen Eindruck machte, was in diesem Trubel unpassend schien. Aber bevor ich ihn auf seine offensichtlich trübe Stimmung ansprechen konnte, war plötzlich mein Fahrer neben mir und raunte mir ins Ohr: "Lass ihn. Das ist Leroy Kincaid." Schon war er wieder weg, und ich ging mit einer Gänsehaut zur Bar zurück.
Dort hatte ich nur wenig Zeit zum Gänsehautabschütteln, denn wie eine Erscheinung stand plötzlich eine ganze Menge Frau neben mir und lächelte lasziv, während sie mich von oben bis unten und zurück musterte.
"Was hältst du davon, einen auszugeben, Junge?"
"Was immer du willst, Rosie."
Und sie warf ihren Kopf zurück und lachte. Wir hatten noch viel Spaß.
Irgendwann tauchte Bon wieder auf. Ich hatte mich gerade umgeschaut und war zu dem Schluss gekommen, dass ich alles gesehen hätte.
"Es wird Zeit, dich nach Hause zu bringen." Und wieder dieses Lächeln.
"Okay." Es hörte sich einfach richtig an.
Ich weiß nichts von der Heimfahrt, aber zu Hause angekommen, stellte Bon den Motor ab und gab mir die Hand.
"Kommst du nicht mehr mit rein?", fragte ich verwundert. Wozu hatte er den Motor abgestellt, wenn er sich nun von mir verabschiedete?
"Ich kann nicht. Ich muss im Auto bleiben."
"Hey, Junge! Da tropft Wasser aus deinem Auge."
"Weißt du nicht, was heute Nacht mit dir im Auto passiert?", presste ich hervor und versuchte, meine Tränen zu schlucken.
"Doch, natürlich weiß ich das." Schon wieder dieses Lächeln. In diesem Moment hätte ich es nicht gebraucht.
"Aber warum? Ich meine, kannst du nichts dagegen tun?"
"Vergiss nicht, es ist 2002."
"2002? Ja, aber es war alles so echt. So wie du es erzählt hast. So wie früher."
"Es ist immer gleich. Ob es gut ist oder nicht, liegt nur an dir, nicht daran, ob es 1980 oder 2002 ist."
"Das ist nicht wahr! So eine Nacht kann man nur mit Bon Scott erleben!"
"Ach ja? Wie oft haben wir uns denn in diesem Lokal gesehen?"