Lass dir von einer ausgebildeten klassischen Sängerin sagen: Du hast schlicht keine Ahnung von klassischer Musik.
Pavarotti wusste schon was er da tut...
Ist okay wenn du nichts empfindest wenn ein Pavarotti Nessun Dorma singt. Muss ja niemand. Aber in so nem Fall sag ich einfach: Schuster, bleib bei deinen Leisten. Du als Hörer solltest vermutlich davon Abstand nehmen, klassische Musik zu hören.
Ist richtig - ich hatte nie eine klassische Gesangs- oder Instrumentalausbildung. Erachte ich aber auch nicht für nötig. Ich bin in einer musikalischen Familie aufgewachsen, muss mir heute noch ständig anhören lassen, dass ich mit meiner Stimme locker Gesang hätte machen können etc. Ist mir nicht wichtig. Ich bin Zuhörer, sonst gar nichts.
Womit ich nicht einverstanden bin ist die Sache mit dem Schuster. Solange ich Musik höre - und das tue ich fast rund um die Uhr - halte ich mich auch für kompetent genug, sie zu beurteilen. Zwar mag ich das nicht aus professioneller Perspektive können, aber Harmonie und Zusammenspiel kann ich noch beurteilen. Behaupte ich jetzt mal. Natürlich kann ich mich nicht nach dem Genuss einer Oper stundenlang über eine Arie auslassen, sie analysieren und einzelne Tonlagenschwächen der Sängerin/des Sängers herausfiltern - will ich aber auch nicht. Wenn das deine Vorstellung von Klassischer Musik ist, nämlich dass sie nur von Leuten gehört werden sollte, die sie auch studiert haben, hast du weder deren Geschichte noch deren Zweck verstanden und verwechselst sie wohl mit der hohen Mathematik.
Pavarotti wusste sicher, was er da tut. Er tut Leuten wie dir einen Gefallen. Aber jetzt nimm mal Abstand von deiner klassischen Ausbildung, halte dir die Geschichte dieses Liedes vor Augen und sage mir auf den Kopf zu, dass jemand, der sein Liebesglück und sein Leben zum Greifen nahe sieht, "All'alba vincero, vincero, vincero!" so betont wie Pavarotti.
Für diejenigen, die den Hintergrund jetzt nicht kennen:
Der Tatarenprinz Kalaf, der liebestrunken um die kaltherzige Prinzessin Turandot freit, hat deren drei Rätsel gelöst und somit seinen Kopf behalten und sie zur Frau gewonnen. Er stellt sie jedoch frei von ihrem Versprechen, wenn sie seinen Namen bis zum Sonnenaufgang kennt; er hätte dann den Freitot gewählt. Prinzessin Turandot willigt ein und verfügt, dass Peking nicht schlafen solle (Nessun Dorma), sondern nach dem Namen des Prinzen fanden soll - schaffen es die Einwohner nicht, droht ihnen allen der Tod (ist bei Manowar die Stelle, an der ein Chor von Frauen im Hintergrund die Melodie untermalt; ursprünglich gibt es dazu Text). Und nun, kurz vor dem Aufgehen der Sonne, singt Kalaf, den Sieg in der Hand, dieses Crescendo ("bei Sonnenaufgang werde ich siegen, werde ich siegen, werde ich siegen!"). Und dann stellt euch vor, dass mit dem Paukenschlag die Sonne hinter den Hügeln hervorbricht, mit dem Einsatz der E-Gitarre die Prinzessin ihr Gesicht in den Händen vergräbt und weiß, dass sie verloren hat.* Kalaf hat damit die Einwohner Pekings von unendlicher Grausamkeit befreit, sein Leben behalten und seine Liebe ergattert. Zudem hat er der Prinzessin, welche die Sklavin seines Vaters foltern hätte lassen, um den Namen zu erfahren, gezeigt, dass selbst ihre Grausamkeit Grenzen hat. Wird jemand, der einen derartigen Sieg errungen hat, singen wie Pavarotti? Oder wird er nicht vielmehr triumphierend die Faust erheben und seinen Siegesgesang ein zweites Mal anstimmen (dass der letzte Teil ein zweites Mal gesungen wird, war nämlich nicht vorgesehen).
Und jetzt sag mir noch einer, dass die Interpretation von Manowar/Eric Adams Müll ist...
Deshalb habe ich auch schon vorher geschrieben, dass ich Pavarotti zwar die Arie singen, aber nicht den Prinzen spielen höre. Dieses Gefühl des Sieges, dieser Triumph und diese Erleichterung, diese ausgelassene Freude und den bitteren Schmerz der Prinzessin, den höre ich bei Manowar, bei Pavarotti nicht. Ich orientiere mich bei Liedern eben stark am Text und an dessen Untermalung. Für mich bedeutet dieser Text mehr als nur das Erzählen einer Geschichte - der Text einer Oper ist mindestens so wichtig wie der Text in einem Theaterstück. Und ein Schauspieler (und schließlich ist das auch ein Opernsänger), der seine Rolle nicht lebt, hat auf der Bühne nichts verloren.
Musik ist für mich mehr ein Film für Menschen mit Phantasie. Ich mag das wie ein Laie (der ich bin) interpretieren, aber genau das ist es, womit ich meine Musik aussuche. Läuft in mir ein Film ab, den ich ansprechend finde, ist diese Musik für mich auch gut. Meine Ansicht.
Im Übrigen gebe ich Seatiger durchaus recht mit seinen Ausführungen zur Interpretation.
*Mir ist bewusst, dass die Reihenfolge hier leicht verkehrt ist, sehe aber nicht, dass das Lied nicht in diese Stelle passen würde.